Karin Haehn
Corona hat uns das ganze Leben neu geordnet. Viele dieser neuen Ordnungen erinnern mich an meine frühe Kindheit.
1940 geboren habe ich erlebt, dass es gefährlich ist, Anordnungen der Eltern und Lehrer nicht gewissenhaft und widerspruchlos zu befolgen.
Wenn die Tiefflieger über unsere Köpfe donnerten, sollten wir uns auf den Boden schmeißen, damit wir nicht gesehen werden und abgeschossen würden.
Bei Fliegeralarm wurde der ständig gepackte Koffer ergriffen und wir gingen alle unverzüglich in den Keller.
Um mich nicht von meinen schlimmen Erinnerungen runterziehen zu lassen, lese ich das Sachbuch von Stefan Reuter: E-Boock 987 3 89901 870 0 „Gut, dass es Dir schlecht geht“. Im Kapitel „Interessant“ steht der Satz: „Am Ende der Selbstverachtung lauert die Depression. Das Leben bring respektlosen Menschen mit Nachdruck Respekt bei. Und zwar auf äußerst unangenehme Weise. Sie werden unachtsam, machtbesoffen und verantwortungslos!“
Wer mehr lesen will, kann das bei www.stefanreuter.de tun. Reuter sagt das im Zusammenhang mit dem Respekt, den jeder Mensch seinen Eltern entgegenbringen sollte.
Respekt heißt auch Rückschau. Wenn ich auf mein Leben in meinem Elternhaus zurückschaue, dann zolle ich meiner Mutter, die mit drei kleinen Kindern bei ihren Eltern wohnen durfte, als der Vater im Krieg das „Groß-Deutschland“ verteidigen musste, ganz großen Respekt. Genauso haben meinen beiden Großeltern meine volle respektvolle Hochachtung für ihre beständige fürsorgliche Zuwendung und vorbildliche, arbeitsreiche Lebensweise.
Großvater war Glasmaler aus Böhmen. Ich erinnere mich unzähliger Märchen und Geschichten, die er uns Kindern in der Dämmerstunde oder auch beim Pilze suchen erzählte. Er machte uns den Wald lebendig mit sprechenden Tieren, Feen und Elfen.
Ich glaube, ihm verdanke ich meine lebendige Fantasie und das Gefühl, im Wald und Garten zu Hause zu sein.
Als Vater aus der russischen Kriegsgefangenschaft kam, mussten wir alle in das Haus seiner Mutter ziehen, weil sie gerade ihren Mann in den Tod begleitet hatte.
Diese Großmutter sollte zwei Jahre lang mein wichtigste Bezugsperson zwei Generationen über mir sein. Sie saß jeden Tag in ihrer dunklen Kammer und freute sich über meine stille Gesellschaft. Ja, ich war ein sehr stilles und in sich zurückgezogenes Kind. Anders als meine Geschwister. Sie eroberten sich die Straße, die gleichaltrigen Kinder, die Nachbarn und Tiere. Meine beiden Geschwister haben die gleiche Erdung und Prägung wie ich. Ich bin die jüngste von uns dreien und die einzige die psychotisch wurde, als der ganz normale Altagsstress sie überforderte.
Einmal in der Woche gingen Großmutter und ich zum Grab des Großvaters. Unterwegs blieb sie immer wieder stehen, weil sie sich „verpusten“ musste. „Du wirst später mal an mich denken, wenn Du alt bist und den Berg nicht mehr auf einmal hoch kommst“, sagte sie dann immer zu mir mit einem besonderen Gesichtsausdruck.
Ich glaube, sie schämte sich ihrer Schwäche. War sie doch in ihrer Jugend als jüngste Bauerntochter durch die Dörfer gelaufen um aus ihrer Kiepe Eier und Butter zu verkaufen. Ehe sie Großvater heiratete, musste sie eine schmucke Deern gewesen sein. Die vielen Kinder, die sie geboren hatte, ihnen allen Essen und Kleidung zu geben, hat sie hart und eigensinnig gemacht. Wenn sie ihre kleine Rente abholte, feierte sie „Jakobstag“. Das ist der Tag, an dem der verlorene Sohn nach Hause kam und der Vater alle Köstlichkeiten des Hauses auf den Tisch stellte. Großmutters Jakobstag kostete sie fast ihre kleine Rente. Sie kaufte sich beim Kaufmann und beim Schlachter all die kleinen Leckererin, die sie sich ihr Leben lang nicht gönnen durfte.
Mit strahlendem Gesicht saß sie dann in ihrer Kammer und verzehrte alles sofort mit den Worten: „Frisch up, schmeckt wohl!“ Weil ich als die Jüngste ihr Liebling war, bekam ich immer etwas ab und ich merkte mir in meiner Kinderseele, dass es wichtig ist zu lernen, dass man sich im Alter auch mal etwas gönnen darf.
Großmutter schlief eines Nachts ganz friedlich ein. Da war ich zehn Jahre alt und schlich zum Entsetzen meiner Mutter nochmals in ihre Kammer, wo sie aufgebahrt war, und streichelte zum Abschied ihre Wange.
Die Nachbarsfrauen kamen nach altem Brauch mit Blumen und sagten jede etwas ausgesucht Freundliches zu der toten, alten Frau. Mir war das sehr tröstlich. Zog ich als Kind daraus den Schluss, Großmutter sei beliebt bei allen.
Nun will ich zurückkommen auf Stefan Reuters Gedankengänge zu depressiven Menschen. Ehe ich psychotisch wurde, habe ich mich von Menschen abwerten und demütigen lassen, bis ich keinen Schlaf mehr fand und Angst hatte, ich sei wirklich ein Mensch, der zu nichts nutze sei und keinen eigenen Wert besaß.
Ich denke, das war auch ein Grund, warum ich die Demut, die meine Mutter bei der Versorgung meines Vaters und seiner alten Mutter an den Tag legte, verachtete. Ganz lange habe ich geglaubt, Demut sei eine Verhaltensweise, die zwangsläufig dazu führt, dass der, der demütig ist, zwangsläufig depressiv werden muss. Das habe ich gedacht, weil ich die Erfahrung gemacht habe, dass ich von dem Zeitpunkt, als ich anfing mich zu wehren, wenn mich Einer angriff, nicht mehr krankhaft depressiv wurde…
Darum vertrete ich die Meinung, es geht vor allen Dingen um das richtige Maß der Wehrhaftigkeit. Dazu benötige ich eine respektvolle Haltung gegenüber meinem Gegenüber. Und ich muss wissen, dass ich nur dann nachhaltig etwas erreichen kann, wenn ich mein Gegenüber zum gemeinsamen Handeln überzeugen kann. Dazu benötige ich auch die Kraft des demütigen Zuhörens, ehe ich den Anderen mit meinen Gedanken und Wünschen überfallen darf. Finde ich das richtige Maß nicht, löse ich einen Machtkampf aus und erreiche statt eines Miteinanders ein Gegeneinander.
Um wieder auf unsere Corona-Zeit zurück zukommen, denke ich, dass die öffentlichen Demos für oder wider dieRegeln und persönlichen Einschränkungen, der Hygiene zuliebe, ein Maßstab für Verantwortungsfähigkeit und -Willigkeit unseres deutschen Volkes sind.
Verantwortung für sich und sein Umfeld zu tragen, hat etwas mit persönlicher Reife zu tun und zeigt die Achtung vor dem Recht auf ein glückliches, freies Leben für alle Menschen. Inklusion scheint mir ein gangbarer Weg dahin zu sein. Ohne die durchgehende Dazugehörigkeit zu unserer Gesellschaft, egal welcher Abstammung, Glaubensrichtung oder Weltanschauung, werden wir nie wirklichen Frieden finden. Dazu gehört meiner Meinung nach auch, dass alle Menschen mit Behinderungen Hilfen und Förderungen erhalten, die sie befähigen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Wenn‘s sein muss, auch mit einfühlsamer Assistenz.
Aufhören muss meiner Erfahrung nach auch das jahrelange „Ruhigstellen“ mit Psychopharmaka, weil dadurch jede persönliche Entwicklung und Bewältigung der erlittenen Traumata verhindert wird. Im ewigem „Medikamentensumpf“ kann man schon mal auf den Gedanken kommen, wir hätten wieder Krieg.
30.08.2020